Fachkräftemangel in der Supply-Branche

Hausgemachtes Problem oder strukturelle Krise?

Bild: Adrian Sulyok

Die Schweizer Supply-Branche steckt in einer tiefen Krise. Der Fachkräftemangel hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verschärft und bedroht die Funktionsfähigkeit der gesamten Lieferketten. Das Problem ist hausgemacht.

Eine letzten Dezember veröffentlichte Studie des Instituts für Supply Chain Management der Universität St. Gallen zeigt, dass neben offenen Stellen und demografischen Entwicklungen auch hausgemachte Faktoren das Problem verschärfen. Verfasst wurde die Studie von einem inter­disziplinären Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Friedli in Zusammenarbeit mit Swiss Supply. Die Untersuchung entstand im Rahmen der Initiative Movement’32, die sich der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft widmet. Mit einer Kombination aus quantitativen Analysen, Experteninterviews und einer Umfrage zum Branchenimage liefert sie erstmals belastbare Zahlen zur Situation der Fachkräfte im Güterkreislauf. Die Studie versteht «Supply» als das Management des Waren-, Daten- und Finanzflusses im Zusammenhang mit einem Produkt oder einer Dienstleistung – von der Beschaffung der Rohstoffe über Produktion, Lagerung und Transport bis hin zur Lieferung an den End­kunden oder zur Entsorgung. Die Branche bildet das Rückgrat der Schweizer Wirtschaft, weist aber alarmierende Schwachstellen auf. Die Datenanalyse zeige nämlich, dass der Fachkräftemangel in der Supply-Branche gravierender ist als in anderen Wirtschafts­sektoren. Besonders betroffen seien Logistik- und Transportberufe, in denen jede zehnte Stelle unbesetzt bleibt. 2022 fehlten bereits über 36’500 Fachkräfte – fast doppelt so viele wie vier Jahre zuvor. Ein zentrales Problem sei die hohe Abbruchquote in relevanten Ausbildungsberufen. Während die durchschnittliche Abbruchquote in der Schweiz bei 6,4 Prozent liegt, sind es in der Supply-Branche oft mehr als doppelt so viele. Besonders betroffen sind Berufe wie Logistiker/in oder Strassentransportfachmann/-frau. Viele Auszubildende unter­schätzen die Anforderungen oder empfinden die Tätigkeit als wenig attraktiv.

Problem: Image und Migration

Ein weiteres Hindernis sei das schlechte Image der Supply-Branche. Sie gelte als wenig innovativ, körperlich belastend und mit geringen Ent­wicklungsmöglichkeiten verbunden. Eine Umfrage zeigte, dass viele junge Menschen sich nicht vorstellen können, in diesem Bereich zu arbeiten. Gleichzeitig führt die zunehmende Akademisierung dazu, dass immer mehr Jugend­liche ein Hochschulstudium anstreben, anstatt eine Berufslehre in der Logistik oder im Trans­portwesen zu beginnen. Während es also immer mehr Hochschulabsolventen gibt, fehlen qualifizierte Fachkräfte für operative Tätigkeiten. Die Migration spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Fast 40 Prozent der Arbeitskräfte in der Supply-Branche stammen aus dem Ausland, zunehmend aus Ländern ausserhalb der EU. Dies bringt neue Herausforderungen, etwa sprachliche und kulturelle Barrieren. Zudem ist unklar, wie lange sich die Schweiz auf diese Entwicklung verlassen kann, da viele Herkunftsländer selbst mit einem Fachkräftemangel kämpfen. Auch technologische Fortschritte bieten keine einfache Lösung. Zwar könnte Digitalisierung den Fachkräftemangel langfristig abfedern, doch vielen Betrieben fehlt das Kapital, um moderne Technologien einzuführen. Automatisierung und KI haben Potenzial, sind aber noch nicht massentauglich.

Zu hohe Hürden für Quereinsteiger

Die Studie schlägt verschiedene Massnahmen vor, um den Fachkräftemangel zu entschärfen. Schulen und Berufsberatungen sollten verstärkt über Karrierewege in der Supply-Branche informieren, während gezielte Praktika Vorurteile abbauen könnten. Quereinsteiger sollten durch finanzielle Anreize und Weiterbildungen gezielt in die Branche integriert werden. Doch es gibt auch hier Hürden: Die Ausbildung zum Berufs­kraftfahrer kostet rund 15’000 Franken, was viele abschrecke. Zudem erfordert die Tätigkeit Sprachkenntnisse in Deutsch, Italienisch oder Französisch, was für potenzielle Arbeitskräfte aus dem Ausland eine zusätzliche Hürde darstelle. Das Image der Branche müsse dringend verbessert werden, finden die Autoren. Während andere Wirtschaftssektoren gezielt ihre Innovationskraft betonen, werde die Supply-Branche in der Öffentlichkeit oft auf monotone oder körperlich anstrengende Tätigkeiten reduziert. Unternehmen könnten ihre tech­nologischen Fortschritte stärker kommunizieren und at­traktivere Arbeitsmodelle anbieten, um neue Zielgruppen anzusprechen. Gleichzeitig wird sich die Branche ohne eine gezielte Steuerung der Migration nicht über Wasser halten können. Während in der öffentlichen Diskussion oft die Begren­zung der Zuwanderung im Vordergrund steht, ist in der Supply-Branche das Gegenteil der Fall: Ohne gezielte Fachkräfte­einwanderung droht das System mittelfristig zusammenzu­brechen.

Konkrete Massnahmen werden gefordert

Die Prognosen sind laut den Studienautoren wenig optimistisch. Ohne tiefgreifende Reformen wird sich der Fachkräfte­mangel in den kommenden Jahren weiter verschärfen. Bis 2032 könnte sich der Mangel an Arbeitskräften nochmals um mehrere zehntausend Vollzeit­stellen erhöhen. Der demo­grafische Wandel kommt erschwerend hinzu: In den nächsten fünf Jahren wird etwa ein Drittel der derzeitigen Arbeitskräfte das Rentenalter erreichen, und viele dieser Stellen werden nicht adäquat ersetzt werden können. Gleichzeitig wird der Nachwuchs in der Branche nicht signifikant ansteigen. Der Fachkräftemangel in der Supply-Branche ist kein vorüber­gehendes Problem, sondern das Ergebnis struktureller Defi­zite. Ein schlechtes Image, hohe Einstiegshürden und eine unzu­reichende Nachwuchsförderung verschärfen die Krise. Ohne gezielte Massnahmen droht der Mangel weiter anzusteigen. Migration und Automatisierung allein werden nicht ausrei­chen, um die Lücken zu füllen. Die Branche müsse sich fragen, ob sie bereit ist, sich selbst zu verändern – oder weiterhin nur Symptome bekämpfen möchte.

Autor: Michel Bossart